Grundsätzlich wäre eine Debatte über kulturelle Aneignung interessant zu führen – wenn man es denn täte.

Lieber als einen Text über Probleme der Schweiz würde ich einen Text über deren Stärken schreiben, von denen abseits des 1. August wenig die Rede ist. Und doch bringt mich das Nachdenken über die Stärken direkt zu einer der grössten Bedrohungen, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist. Wenn ich unsere Demokratie und die vielgepriesene Fähigkeit zu Dialog und Verständigung als grösste Stärke unseres Landes betrachte, so sehe ich in der Erosion dieser Diskursbereitschaft die derzeit grösste Bedrohung.

Meret Schneider

Meret Schneider

Es ist sicherlich nichts Neues, dass sich in Wahljahren die Debatten zuspitzen, die rhetorischen Klingen schärfer werden und der Schlagabtausch härter wird. Auch ist in Situationen, in denen der eine oder die andere die Contenance verliert und sich in der untersten Schublade der rhetorischen Kommode bedient, noch keine Bedrohung zu sehen.

Eine Entwicklung, die mich jedoch beunruhigt, kristallisierte sich für mich eindrücklich an der Debatte um kulturelle Aneignung und die Frage, ob man heute noch «Winnetou>> vorlesen und den kolonialen Hintergrund der Schoggiköpfe aus deren Namen verbannen sollte. Es ist eine Entwicklung hin zu einer Gesprächskultur, die nicht den Austausch und damit das Überwin- den von Gräben zum Ziel hat, sondern genau diese Gräben betont und aus der Empörung derjenigen, die sich abgehängt oder übergangen fühlen, politisches Kapital schlägt.

Exemplarisch ausführen möchte ich dies an der erwähnten Debatte um kulturelle Aneignung, die gern mit einem empörten <<Darf man denn nun noch …>> eingeleitet wird. Darf man noch <<Winnetou» vorlesen, dürfen weisse Menschen Dreadlocks tragen, hat Elvis Presley sich in unlauterer Art und Weise der schwarzen Musik bedient? Die Debatte drehte sich zunächst um legitime und diskussionswürdige Fragen. Später wurde sie allerdings in feuilletonistischen Kolumnen wortgewandt bis süffisant auf ein angebliches Problem der «Generation Snowflake»> zugespitzt und überdreht. Dann etwa, wenn rhetorisch gefragt wurde, ob man überhaupt noch Pizza essen dürfe, in dieser hypersensiblen Gesellschaft.

Das Gefühl der Abgehängtheit

Auslöser der Debatte war der Entscheid des Ravensburger-Verlags, das Kinderbuch «Der junge Häuptling Winnetou>> aus dem Sortiment zu nehmen. Gleichzeitig war Kritik am gleichnamigen Film lautgeworden, da dieser rassistische Klischees bediene und eine kolonialistische Erzählweise nutze. Davon, die Winnetou-Bücher zu canceln oder Karl May zu verbieten, war aber nie die Rede gewesen. Doch aus diesen Entscheiden entwickelte sich eine Debatte um kulturelle Aneignung. Eine Diskussion, die in den USA schon seit Jahren existiert, im deutschsprachigen Raum jedoch bisher kaum in einer breiten Öffentlichkeit stattfand.

Mit kultureller Aneignung ist gemeint, dass Menschen sich einer Kultur bedienen, die nicht ihre eigene ist, sie kommerzialisieren und aus dem Zusammenhang reissen. Wichtig ist hierbei der Aspekt der Kommerzialisierung und der Tatsache, dass dabei eine privilegierte Schicht mit den Elementen einer anderen Kultur Profit erwirtschaftet. Grundsätzlich eine spannende Diskussion, die interessant zu führen wäre – wenn man es denn täte.

Natürlich wäre ein Verbot kultureller Aneignung weder umsetzbar noch sinnvoll. Dies nur schon aus Gründen der Konsequenzen, die sich daraus ergäben, wenn man die geforderten Nutzungsbeschränkungen zu Ende denkt. Denn dann müssten bei jedem Stil, jeder Form kulturellen Ausdrucks die Urheber ausfindig gemacht und ihr Gebrauch auf diese Urheber beschränkt werden. Wichtig ist zu konstatieren, dass dies nirgends gefordert wurde: Weder standen Verbote im Raum, noch sollten im grösseren Stil Menschen «gecancelt>> werden vom sehr ungeschickten Dreadlocks-Beispiel einmal abgesehen.

Was dann aber folgte, war ein Aufschrei: nicht derjenigen, die kulturelle Aneignung differenziert kritisierten, sondern jener von ein paar Populisten, die in der Debatte politisches Kapital witterten. Wenn man sich die Artikel und die Reaktionen auf eine Diskussion, die eigentlich eine konstruktive hätte sein können, ansieht, fällt auf: Der Aufschrei oder der Ruf nach drastischen Konsequenzen kam nicht von jenen, die Winnetou-Filme kritisch sahen – im Gegenteil. Es waren vehemente Gegner solcher Überlegungen, die sich Kolumnen um die Ohren schlugen, in denen jegliche Kritik an kultureller Aneignung ad absurdum geführt wurde. Unter dem inflationär verwendeten Begriff «Cancel-Culture>> wurde der heutigen Gesellschaft kollektiv eine Hypersensibilität unterstellt.

<<Was darf man überhaupt noch sagen?», wurde skandiert – ohne dass von irgendeiner Seite je politisch Sprechverbote oder Verbote von Büchern gefordert worden wären. Aus einer gefühlten Abgehängtheit heraus, die sich vermutlich aus dem Gefühl speist, die eigene Kindheit und Vergangenheit sei nichts mehr wert oder aus heutiger Sicht gar problematisch (Winnetou, Zigeunerschnitzel, Schoggiköpfe …), wurde einer Gegenseite attestiert, überzureagieren und lächerliche Verbote zu fordern.

Dies ging so weit, dass auf diesem sehr mobilisierungsstarken Momentum der gefühlten Abgehängtheit ganze politische Kampagnen aufgebaut wurden. Dies ohne das geringste Interesse daran, die Menschen tatsächlich abzuholen und damit zu einem Gelingen des Diskurses beizutragen. Im Gegenteil: Je breiter die bewirtschafteten Gräben wurden, desto grösser wurde das politische Potenzial. Denn so funktioniert nun einmal Populismus.

Differenziertheit ist kein Ziel

Doch genau das ist eine fundamentale Bedrohung für eine Demokratie. Wichtig wäre es nämlich, genau hinzuschauen. Welche Forderungen standen tatsächlich im Raum? Welche Aspekte sollten berechtigterweise diskutiert werden? Und ist die Hypersensibilität nicht vielleicht auf der Seite jener zu verorten, die empört <<Cancel-Culture»> schreien?

Doch weder Differenziertheit noch Bereitschaft zum Gespräch waren je Ziel der Autorinnen und Autoren diverser Artikel und Tweets, sondern die Mobilisierung jener, die sich in ihrem
Selbstverständnis bedroht sahen. Das ist problematisch, und deshalb setze ich politisch und persönlich alles daran, mit Menschen jeglicher Couleur ins Gespräch zu kommen und einen ernsthaften Diskurs zu pflegen.

Denn letztlich sind wir es, die die Regeln des kollektiven Umgangs miteinander aushandeln, wenn wir nicht nur Konsumierende, sondern auch Gestaltende unserer Gesellschaft sein wollen.

Meret Schneider ist Nationalrätin der Grünen. Sie wuchs im Zürcher Oberland auf und studierte Sprachwissenschaften, Umweltwissenschaften und Publizistik.