Der tote Storch im Zoo Zürich sorgte diese Woche für viel Empörung. Die Geschichte ist ein guter Anlass, um auch all jenen Tieren Empathie zu schenken, denen wir sie bisher verwehren.
«Drama im Zoo Zürich: Tiger frisst Storch», war eine der meistgelesenen Geschichten diese Woche auf den Schweizer News-Webseiten. Im Zoo Zürich landete ein Storch unglücklich im Panthera-Gehege und wurde von einem Tiger «zerfleischt». Stück für Stück habe er den Storch gefressen, was gemäss Beobachtern «sehr brutal» gewesen sei; diverse Kinder hätten zugeschaut.
Die dramatische Komponente dabei erschloss sich mir nicht ganz, wohl aber den Diskutierenden, die mutmassten, woher der Storch wohl kam, und feststellten, dass im Storchennest offenbar nur noch ein Babystorch statt zweier zu sehen sei.
Was die Besuchenden im Anschluss an diese unfreiwillige Raubtierfütterung wohl getan haben? Womöglich ging es danach zum nächsten Gehege, man beruhigte die Kinder («das ist halt die Natur»), und der ein oder andere stärkte sich ob des Schocks mit einem Poulet-Wienerli aus dem Zoorestaurant.
Überbordende Empathie gegen Gleichgültigkeit
Und hier beginnt die Absurdität der Situation, die mir auch immer wieder begegnet, wenn Menschen voller Hingabe ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen grossziehen, um sich danach im goldenen M an den Chicken Nuggets gütlich zu tun. Es ist die Diskrepanz zwischen einer überbordenden Empathie mit dem konkreten Tier vor Augen, sei es dem Storch oder dem Vögelchen, und der scheinbaren Gleichgültigkeit dem Masthuhn gegenüber, das in seinem 30-tägigen Leben kaum je eine Wiese zu Gesicht bekommt. «Drama im McDonald’s: Erneut mehrere Tausend Hühner für Nuggets gequält» – eine Schlagzeile, die wir so vermutlich nie lesen werden.
Und wer nun im Zuge des klassischen Anti-Grün-Reflexes in Erwartung des moralinsauren Zeigefingers im Begriff ist, diesen Artikel zur Seite zu legen: Keine Sorge. Ich will niemandem seine Chicken Nuggets wegnehmen, geschweige denn die viel zitierte Bratwurst. Auch steht mir der Sinn nicht danach, mich über die mitfühlenden Menschen zu erheben, die mit dem Poulet-Hotdog in der Hand den Storch bedauern – im Gegenteil. In einer Zeit wie dieser schätze ich jeden noch so irrationalen Funken Empathie mit unseren nicht menschlichen Freunden. Denn jedes Mitfühlen ist ein Fuss in der Tür zu einem Mitfühlen mit noch anderen Lebewesen als jenen, mit denen wir gelernt haben, mitzufühlen.
Nicht moralisieren, sondern einladen und zu Empathie ermuntern
Wen wir streicheln und wen wir essen und warum wir das Spanferkel, aber nicht den Spanwelpen servieren – das konnte mir bisher auch der überzeugteste Bratwurstverfechter nicht erklären. Klar sind diese Unterschiede absolut willkürlich und kulturell bedingt, und ich wiederhole: Ich möchte niemandem seine Wurst wegnehmen oder das Fleisch verbieten. Und doch sind solche Geschichten wie über den Storch im Zürcher Zoo auch immer wieder die Gelegenheit, nicht zu moralisieren, sondern einzuladen, unser Mitgefühl auf all jene auszudehnen, denen wir es bisher verwehren.
Das hat nichts mit Verbotskultur zu tun und auch nichts mit grünem Zwang. Es ist eine Einladung, die Freiheit der Konsumierenden auch als die Freiheit zu begreifen, sich für das Tier zu entscheiden. Die Freiheit der Konsumierenden, wie sie die FDP und Konsorten begreift, wird oft als eine interpretiert, sich so unmoralisch wie möglich verhalten zu dürfen. Und ja, liebe Leserinnen und Leser, Sie dürfen. Aber im Gegensatz zum Tiger sind wir nicht nur mit Instinkt, sondern auch mit Empathie gesegnet und haben die Möglichkeit, uns zu entscheiden. Im Restaurant des Zoos Zürich zum Beispiel für die pflanzlichen Nuggets – sie sind hervorragend.
Meret Schneider ist grüne Nationalrätin für den Kanton Zürich
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